Auszeit in Norwegen im Nationalpark Jotunheimen

Der Nationalpark Jotunheimen liegt in der Mitte Norwegens. Übersetzt bedeutet es Heim der Riesen, es ist das höchste Gebirgsmassiv in Skandinavien. Auf einer Fläche von 3.500 Quadratkilometern sind die Möglichkeiten – nicht zuletzt Dank das Jedermannsrechts – grenzenlos.
Mehr als 50 markierte Routen, die perfekt markiert und mit Steinmännchen versehen sind, zur Auswahl. Die Wanderung über den Besseggen Grat ist spekatkulär, die beiden Berge Galdhøppigen (2.469 m) und Glittertind (2.464 m) sind die beiden höchsten Berge Norwegens.
Entweder man wandert von Hütte zu Hütte oder aber man nimmt ein Zelt mit und schläft dort, wo man eben bleiben möchte – all das ist dort erlaubt. Jotunheimen ist nicht nur das Heim der Riesen, sondern auch der Freiheit, wie man sie fast nur im Norden erleben darf.

August 2022, Nationalpark Jotunheimen

Donnerstag, 11. August, Gjendesheim

Do what you love. Love what you do. Ich habe meine Arbeit am und für das Magazin fast immer geliebt, habe unbeschreiblich viel Zeit und Energie investiert – und das gerne. Nach 8 Jahren ist es Zeit für ein Ende und einen Neubeginn, es ist aber auch Zeit für den ersten echten Urlaub. Ein Urlaub, der nichts mit Laufen, Social Media, Trail News und dergleichen zu tun hat. Es ist eine Reise für die Liebe zur Natur, der Liebe für das Abenteuer, der Entdeckung der Langsamkeit und des Pausierens.

Ich liege hier in einem Zelt im Jotunheimen Nationalpark in Norwegen, erfüllt mit Leben und Liebe. Mit einem Menschen, den es vermutlich nur einmal auf dieser Welt gibt. Karma muss es geben, anders lässt es sich nicht erklären, plötzlich so viel Glück erfahren zu können.
Der Fluss rauscht, die Berge um uns herum strahlen Stärke und Ruhe aus. Während andere in der Hütte schlafen, genießen wir unser Zelt. Das Jedermannsrecht hier im Norden gibt uns die Freiheit, die wir beide suchen. Das Handy, der Computer, all die E-Mails, die Anforderungen, sie sind plötzlich weg. Zum ersten Mal in 8 Jahren nehme ich mir eine echte Auszeit und weiß so gar nicht, was mich erwartet. Es spielt alles keine Rolle. Ich darf sein, wir dürfen sein. In dem Rhythmus, der sich richtig anfühlt.
Es ist Dankbarkeit. 10 Tage lang so leben, wie es eigentlich sein soll. Ich habe das noch nie gemacht, aber mein Gefühl sagt, dass diese Reise genau jetzt genau richtig ist.

Samstag, 13. August, Memurubu

Heute Ruhetag. Aber erst einmal zu gestern: Nach einem Frühstück mit unglaublich aggressiven Gelsen, aber in malerischer Atmosphäre am Fluss starten wir in Richtung Besseggengrat. In Norwegen ist das eine legendäre Route. Heute darf ich erfahren, dass die Zeitrechnung mit einem 20-Kilo-Rucksack eine andere ist. 14 Kilometer und 950 Höhenmeter klingen nach nichts, sind aber vor allem bergab eine harte Tour.
Doch alles läuft gut; meine Sorge, dass irgendeine Form von Stress vorherrschen könnte, ist völlig unbegründet. Am höchsten Punkt genießen wir nicht nur die Aussicht, sondern auch Knäckebrot und Tee, bevor es weiter geht in Richtung Grat.
Der Abstieg ist mit dem Rucksack ein wenig knifflig. Touristen strömen in Scharen hier herauf. Die meisten nehmen das Schiff von Gjendesheim nach Memurubu und wandern dann retour zum Ausgangspunkt. Auch Läufer kommen uns entgegen und kurz bin ich neidisch auf deren Leichtigkeit. Aber diesmal bin ich in einem Prozess der Langsamkeit. Der Rucksack zwingt mich zu pausieren. Er zwingt mich, innezuhalten und er ist eine Metapher für Schwere und für Leichtigkeit. Erstere wird von Tag zu Tag weniger, im doppelten Sinne.
Nach dem Besseggen Grat führt der Weg am Bessvatnet See vorbei – blau wie aus dem Bilderbuch. Die Flaschen werden am Gebirgsbach gefüllt, es schmeckt genauso klar wie es in aller Natürlichkeit – rein und pur – schmecken kann.
Das Gewicht kostet Energie und an einem kleinen See auf 1.470 m, ein paar Kilometer vor Memurubu, beschließen wir eine ausgiebige Pause zu machen.
So manche Wanderer schlagen hier ihr Zelt auf, wir dagegen lösen uns von unserem Gewand und steigen nackt in den glasklaren Gebirgssee. Das Leben fließt durch den ganzen Körper und jede Müdigkeit verschwindet. Mit einem etwa 20×20 cm kleinen Handtuch streife ich die kalten Wassertropfen ab und schlüpfe zurück in meine Kleidung, die mir der von der Sonne erhitzte Stein vorgewärmt hat.

Karin braut Kaffee am Gaskocher, ich suche eine Packung Essen für uns heraus: Wärmender Hafer-Buchweizenbrei mit Zimt, Ingwer und vielen Gewürzen beschert uns neue Energie.
In mich kriecht dennoch die Kälte und schnellen Schrittes brechen wir um kurz nach 7 Uhr auf in Richtung Tagesziel. Nur noch 4 Kilometer liegen vor uns, die wir recht zügig zurücklegen. Bald schon erspähen wir die Hütte des Dorfes und halten Ausschau nach einem geeigneten Zeltplatz. Auch dieser ist in der Nähe des Flusses bald gefunden. Die Muru ist ein imposantes, beeindruckendes Wildwasser, das einerseits zu faszinieren, andererseits zu beängstigen vermag. Was für eine Kraft hier doch vom Berg herunter donnert!
Das Zelt steht schnell, wir kriechen in unsere Schlafsäcke und genießen noch ein bisschen Knäckebrot mit Mandelbutter. Die Luft ist klar und der Alltag scheint bereits jetzt, in dieser unberührten Natur Norwegens, meilenweit entfernt.

Samstag, 13.8. Memurubu Stopp

Meine Nacht war unruhig. Wind und Regen rüttelten am Zelt und schienen bis in meinen Bauch vorzudringen, dem es so gar nicht gut ging. Auch wenn ich voll Energie sein möchte, so bin ich es nicht. Das Leben scheint jetzt in aller Bewusstheit Zeit zu fordern. Als würde das ganze Universum zu mir sprechen und sagen: Es ist genug. Du machst jetzt eine echte Pause. Nimm dir Zeit.
Ist es nicht so, dass man oft nur herumhetzt? Ein Tag vergeht, der nächste ebenso und man merkt eigentlich gar nicht, wie die Zeit an einem vorbei rauscht, ohne bewusst zu leben. Wie auf einer Autobahn, wo man nur die Silhouetten der Autos der Gegenfahrbahn wahrnimmt. Nun merke ich zum ersten Mal, dass es auch anders sein kann. Dass es Liebe gibt, für mich, für die Natur, für das Leben im Rhythmus. Oft habe ich versucht, jemandem zu erklären, was mir Ultraläufe bedeuten – warum es so besonders ist, durch die Nacht zu laufen, alles um sich herum zu vergessen. Noch viel öfter als die Warum-Frage erreichen mich allerdings seltsame Blicke.
Doch ich bin vielleicht nicht so anders, sondern möglicherweise nur echt.
Wie kann man ein Hallenbad einem Gebirgssee vorziehen oder ein Menü mit 4 Gabeln am Tisch einem echten Essen in freier Natur? Ich muss gar nicht versuchen, es zu verstehen. Stattdessen versuche ich, hier mehr und mehr anzukommen. Im Leben.
Wir haben den Tag heute sehr ruhig verbracht, mit viel Tee, guten Gesprächen, Ruhe, Liebe, Dankbarkeit. Ich weiß nicht, welche Route wir hier gehen werden. Ob 50, 70 oder 90 Kilometer. Ob 1, 2 oder 3 Gipfel. Sicher ist lediglich, dass es unsere Route ist und wir mit mehr Stärke abreisen werden als bei unserer Ankunft. Alles Körperliche ist ein Signal, das kommt und wieder vergeht. Jedes Unwohlsein ist vergänglich. Es ist nicht wichtig und es darf fließen. Von Gjendesheim nach Memurubu, von hier bis Gjendebu, meinetwegen auch bis auf den Gipfel des Glittertinden und bis in die Leere der Atmosphäre. Hier, in dieser unberührten Natur kann nur Gutes geschehen.

Sonntag, 14.8.

Der Tiefpunkt scheint überwunden, ich fühle mich besser und es stellt sich nur noch die Frage, wie wir auf unserer Route weitermachen. Spazieren wir nach Gjendebu und retour, machen wir uns auf den Weg nach Spiterstulen oder gehen wir direkt nach Glitterheim? Der Wetterbericht besagt nichts Gutes für die nächsten Tage. Wenn wir den zweithöchsten Punkt des Nordens erklimmen wollen, sollten wir das am Montag schaffen.
Das bedeutet, wir machen uns am späten Vormittag mit allem Gepäck auf den Weg. Ein Anstieg von etwa 400 Höhenmetern liegt zu Beginn vor uns, ehe es in ein langes Tal geht, am Besvatnet See.
Abenteuerlich ist hier so manche Brücke. Es gibt Sommerbrücken und Ganzjahresbrücken. Eine Sommerbrücke ist im heutigen Fall nichts Anderes als ein Metall, das mit Steinen beschwert über den doch recht reißerischen Fluss gelegt ist. Mit dem schweren Rucksack sollte man nicht das Gleichgewicht verlieren…


Am Nachmittag machen wir am Sandstrand, welcher an Die blaue Lagune erinnert, Rast. Wir kochen Hirsebrei und Kaffee, nutzen das Moos später als Abwaschschwamm, ehe es weitergeht. Die Zeitrechnung ist wirklich spannend: Es ist noch mindestens 5 Stunden hell und ich frage mich, ob wir die verbleibenden 12 Kilometer und 500 Höhenmeter vor Einbruch der Dunkelheit schaffen. Das Gewicht des Rucksacks drückt immer mehr auf die Schultern. Jeder Schritt will gut gesetzt werden.
Ein Klingeln in weiter Ferne weckt die Lebensgeister: War das ein Rentier? Die Kameras sind griffbereit platziert und beinahe andächtig gehen wir unseren Weg weiter. Es dauert nicht lange und wir treffen auf eine ganze Herde. Das Licht ist magisch, die Sonne versucht sich immer wieder einen Weg durch die Wolken zu bahnen und diesen speziellen Moment noch schöner zu machen. Doch auch die Müdigkeit ist präsent und der aufziehende Regen trübt meine Stimmung. Spaß soll das hier machen – eigentlich. Ich empfinde in diesem Moment keine Freude, denn alles was ich möchte ist, diesen Rucksack abzusetzen. Ich wünsche mir Leichtigkeit, ich möchte über die Wege fliegen, wie ich das sonst beim Laufen mache.

Während wir unsere Regenjacken überziehen, tauchen von hinten 2 Norwegerinnen mit leichtem Gepäck auf, nur mit einem Top bekleidet. Das ist also auch eine Möglichkeit, sich trocken zu halten – wenn man denn hart genug ist, um die Kälte in der Form auszuhalten.
Eine Anhöhe auf 1.685 Metern weist uns den Weg Richtung Glitterheim. Noch ein paar Kilometer Abstieg, dann ist es bald geschafft. Eine Hängebrücke, zutrauliche Rentiere und ein schöner Zeltplatz warten auf uns. Der Kocher wird angeworfen. Ich hole Wasser aus dem Fluss, Karin kocht Tee. Es ist fast wie bei Tiger und Bär, mit dem Unterschied, dass dort wohl immer die Sonne scheint. Mit dem nasskalten Wetter kann ich mich nur schwer anfreunden. So hoffe ich auf eine einigermaßen erholsame Nacht. Gegen 4 Uhr Früh wecken mich aber meine kalten Zehen und der Regen tropft fröhlich auf das Zelt.

Montag, 15. August

Gegen 6 Uhr mache ich mich auf den Weg zur Morgenwäsche. Es ist kühl und noch immer regnet es ein wenig. Tee und Frühstücksbrei mit Ingwer und Zimt helfen dabei, sich aufzuwärmen. Kann man sich an so ein Klima gewöhnen? Ich fühle mich verweichlicht und schwanke zwischen: ‘Es ist gut, hier mit der Natur zu leben’ und ‘Das soll also mein erster echter Urlaub in vielen Jahren sein’?
Ich bin mir heute wirklich nicht sicher, ob ich hierfür gemacht bin. Karin ist tiefenentspannt, die Erfahrung vergangener Touren hilft ihr dabei, das bisschen Regen und Kälte sehr entspannt zu sehen. Meine bisherigen Ultraläufe fühlen sich plötzlich an wie ein Wellnessurlaub.
Nichtsdestotrotz weiß ich, wie viel Karin Gletscher und Berge bedeuten. Deshalb wartet heute der Gipfel des Glittertind auf 2.464 m auf uns. Der Trockenraum in der Hütte nebenan wird von uns genutzt und meine Stimmung hebt sich ganz deutlich. Ein bisschen Wärme, auch wenn es nur beim Packen des Rucksacks ist, bewirkt Wunder. Mit dem leichten Tagesrucksack brechen wir auf. Das Gelände ist blockig, der Wind weht, aber der Anstieg ist unschwierig. Erst auf über 2.000 Metern, als wir uns vor dem ersten Schneefeld die Spikes auf die Schuhe geben, weht der Wind sehr stürmisch. Ohne Sonnenbrille würden sich die Kontaktlinsen aus meinen Augen verabschieden. Schnee und Gletscher wechseln mit einem Meer aus Steinen. Der Nebel lässt uns nur schwer erkennen, wo der Gipfel zu finden ist. Ein kurzer Blick auf die Karte der Coros Vertix Uhr sagt mir, dass wir bereits vorbei gelaufen sind. Also noch einmal retour. Karin strahlt. Diese Liebe für Gipfel und Gletscher muss man in sich tragen.


Wir haben es geschafft und sind oben. Der Grat ist imposant, meine Freude für Karin ist aber größer als die für mich selbst. Wege und lange Routen empfinde ich als befreiender, als einen einzigen hohen Punkt zu erreichen. Es ist aber sehr spannend, verschiedene Sichtweisen zu sehen, zu erkennen und zu respektieren. Ich denke, wir machen unsere Sache hier sehr, sehr gut.
Das Handy ist völlig passé. Online sein – wozu? Gedanken an Social Media, E-Mails und To Do Listen sind in weite Ferne gerückt. Das Einzige, womit ich manchmal kämpfe, sind meine eigenen Erwartungen. Ich habe mir Leichtigkeit erhofft. Die kann es in der Natur nur geben, wenn man sie so nimmt, wie sie ist. Die Sonne gehört genauso zum Leben wie Wolken, Wind und Regen. Ich habe mir offenbar erwartet, ganz schnell anzukommen. Der Übergang von durchgetakteten Tagen hin zur Annahme der genannten Zweifel und Launen ist nicht immer einfach.
Am Nachmittag sitzen wir in der Hütte und trinken Kaffee. Das erlaube ich mir, das erlauben wir uns.
Im Jetzt sein und dieses so annehmen, wie es ist – das ist das Ziel. Bewirken die Launen der Natur eigentlich auch ein Nachdenken in entsprechender Richtung? Ich merke, dass mir bei Regen und Kälte viele schwere

Dinge einfallen. Vielleicht ist das der Grund, warum mich der Regen stört – weil ich mich nicht mit Schwere beschäftigen möchte. Die Sonne dagegen gibt mir so viel Wärme und Leichtigkeit. Ich versuche, das hier so anzunehmen und auch der Schwere den Platz einzuräumen, die sie offenbar im Moment braucht. Alles hat seine Zeit, alles hat seinen Platz.

Dienstag, 16. August

Gestern Abend: Nach einem herrlichen Abendmahl (Kartoffel-Hirse-Linse mit vielen Gewürzen) beschließen wir, uns auf die Suche nach Rentier Geweih zu machen. Ein kleiner Spaziergang also… recht schnell finden wir unsere ersten Trophäen und der Jagdinstinkt ist geweckt. Immer weiter zieht es uns aus dem Tal hinaus, es ist wunderschön und besser als jede Schnitzeljagd oder Schwammerlsuche.

Dienstag selbst ist Ruhetag. Der Wetterbericht sagt schlechtes Wetter an, wobei schlecht sehr relativ ist. In Norwegen lernt man, mit jedem Wetter umzugehen. Auch die anderen Wanderer sind hier sehr entspannt. Man nimmt es, wie es kommt. Ein warmer Trockenraum kann immer wieder großes Glück bedeuten. Würden wir ausschließlich im Zelt verweilen, wäre mittlerweile alles feucht oder nass.
Jedenfalls beschließen wir, uns noch einmal auf die Suche nach Geweih zu machen. Wir beobachten die Herden, stapfen durch den Sumpf und atmen die Stille der Landschaft ein. Ich denke, gestern habe ich mit diesem Land eine Verbindung aufgebaut, meine anfänglichen Erwartungen beiseite geschoben. Hier bedeutet Urlaub nicht Sonne, laue Spaziergänge am Strand oder ein warmes Hotelbett. Urlaub hier ist Weite und Einsamkeit. Der Alltag könnte nicht weiter weg sein. Die Kälte macht mir immer noch zu schaffen, aber es gelingt mir von Tag zu Tag besser, mich darauf einzustellen. Eigentlich ist Urlaub meistens wohl gleichbedeutend mit einer Flucht. Alles um sich herum vergessen. Das hier ist anders.
Das Wort Urlaub ist völlig unpassend. Es ist eine Pause, sich spüren, ankommen. Mit Intensität. Mit einer Wucht, die man nicht hat kommen sehen.
Ob ich das mag, weiß ich nicht. Doch nachdem immer alles kommt, wie es kommen muss, gehe ich davon aus, dass es genau die richtige Reise ist. Karin ist mein ‘experienced companion’, von der ich eine Menge lernen kann.

Mittwoch, 17. August

Heute ist es Zeit, weiter zu ziehen. Die Nacht war wieder kühl und feucht. Zwar habe ich beim zu Bett gehen ein wenig gefroren, das ist aber schnell vorüber. Mein Rücken ist mit der dünnen Zeltmatratze nach wie vor nicht glücklich, aber sei es wie es sei. Wir sind zu zweit, die Uhrzeit verliert immer mehr an Bedeutung. In einem alten Steinhaus finden wir Unterschlupf und bereiten uns ein Frühstück zu. Der Brei wird in Pancakes verwandelt, für unseren Kaffee haben wir kleinkriminell einen Schluck Milch aus der Hütte mitgehen lassen. Möge uns wie bei Asterix & Obelix der Himmel auf den Kopf fallen für diese Untat – der Milchkaffee ist ein besonderer Genuss und schmeckt herrlich.


Bis Mittag ist unser triefnasses Zelt abgebaut, der große Rucksack gepackt und auch die Rentier-Geweihe sind befestigt. Der ursprüngliche Plan, über Spiterstulen nach Gjendebu zu wandern, ist dem Ziel, diese wunderschönen, besonderen Andenken nach Haus zu bringen, zum Opfer gefallen. Mit Regenjacke- und Hose ziehen wir los. Etwa 20 Kilometer und 600 Höhenmeter warten auf uns. Von der Glitterheim Hütte auf 1.370 m geht es hinauf auf 1.685 Meter über den Pass. Bergauf ist es warm und anstrengend, danach beginne ich im nasskalten Regenwetter und dickem Nebel zu frösteln.
Anziehen, weitergehen, nur nicht stehen bleiben. Spaß? Nein, davon bin ich weit entfernt, aber für jedes Problem gibt es eine Lösung und zum Glück habe ich genug Erfahrung mit der Kälte, damit ich hier nicht mit Schüttelfrost in der felsigen Landschaft Norwegens stehen muss. Schnell weitergehen, ganz schnell…
An meinem Kälte-Management bzw. der Abhärtung muss ich noch arbeiten, aber jetzt freue ich mich einzig und allein auf den Abstieg. Auf etwa 1.300 m erreichen wir eine der besagten Sommerbrücken. Ich vermute, die Norweger sind leidenschaftliche, kreative Brückenbauer. Diejenige, welche wir hier erblicken, scheint den Indiana Jones Filmen nachgeahmt zu sein. Eine wackelige Hängebrücke aus einem Netz mit schiefen Balken darauf ist unser einziger Weg über den Fluss. Sie reicht nicht einmal ganz bis zur anderen Seite. Wir versichern uns kurz, dass die Stahlseile gut verankert sind, versuchen mit dem Geweih nicht hängen zu bleiben und schreiten darüber. Ein kleines Abenteuer!


Weiter geht es hinab zum See und gegen halb 6 Uhr am Abend ist es wirklich an der Zeit, den Rucksack für eine halbe Stunde abzunehmen. Wir kochen Tee und Kaffee, essen etwas von unseren Hafer- und Couscous Bällchen, dazu die übrig gebliebene Schokolade. Ein paar Tafeln haben wir die letzten Tage bereits vernichtet. Bis zu unserem Tagesziel sind es noch ein paar Stunden und wir möchten ohne den Einsatz der Stirnlampen ankommen. Als Ziel wählen wir den Campingplatz in Bessheim. Der vermeintlich langweilige Abstieg ist wunderschön. Die vielen Regenwolken machen der Abendsonne Platz und der Weg schlängelt sich an einem Wasserfall talwärts.
Kurz nach 9 Uhr erreichen wir unser Ziel. Die Rucksäcke mit dem Geweih werden abgelegt. Wir sind ehrlich glücklich, diese Tagesetappe trotz ein paar Tiefen geschafft zu haben. An der Rezeption fällt der erste Blick auf die Schokolade, der zweite aber auf das Bier. 100 Kronen für eine Dose? Das entspricht etwa 10 Euro. Heute spielt das keine Rolle. Bis jetzt haben wir gespart, dieses IPA dürfen wir uns gönnen.
Die Suche nach einem geeigneten Zeltplatz weicht der Entdeckung kleiner Hütten. Was wäre wenn… wir heute gar nicht im nassen, kalten Zelt schlafen würden, sondern in einem richtigen Bett? Mit Matratze.
Die Nacht im Zelt würde 250 Kronen kosten, für die Hütte bezahlen wir 490. Ein paar Quadratmeter Platz, 2 Stockbetten, ein Tisch, Sessel, ein Kühlschrank und eine Kochplatte. Ja, die nehmen wir! Ich bin überglücklich. Das bedeutet Wärme. Als erstes gibt es eine Tasse Tee und danach gönnen wir uns gemeinsam ein zweites Bier. Auch sehr einfache Dinge, vor allem dann, wenn man sie mit der richtigen Person teilt, können sehr glücklich machen.
Wir fühlen uns hier sehr wohl und fallen gegen Mitternacht in einen wohlverdienten Schlaf.

Donnerstag, 18. August

Aufwachen bei Sonnenschein. Der See funkelt unter den Sonnenstrahlen. Erst einmal ausgiebig Kaffee trinken – herrlich. Danach ein gutes Frühstück und eine Wanderung nach Gjendesheim. Das eigentliche Ziel ist ein anderer Campingplatz, bei dem wohl ein Kiosk dabei ist. Wir träumen von Brot, Käse, Joghurt und Eiern. Natürlich auch Bier. Hier kostet eine Dose nur 45 Kronen, ein Ei ist für 5 Kronen zu haben. Auch ein Glas Tomatensauce finden wir. Die Breimischung des Tages mit Linsen und Kürbiskernmehl verwandle ich in eine Art Falafel Bällchen, dazu gibt es Shakshuka-ähnliche Sauce mit darin pochierten Eiern. Das landestypische Flatbrod genießen wir dazu – es ist ähnlich wie Knäckebrot, aber hauchdünn. Zur Krönung gibt es ein bisschen Käse. Es geht uns gut, sehr gut.
Am späteren Nachmittag fragen wir uns, wie weit es sich für einen echten Cappuccino zu gehen lohnt. Im Campingheim prangt eine Werbung des nächsten Campingplatzes mit dem Foto einer echten, italienischen Siebträgermaschine. Aber 7 Kilometer auf Asphalt wandern? Ach, wir fahren Autostopp! Daumen hoch!
Es dauert nicht lange, bis uns ein polnisches Paar mit Hund in einem alten Camper aufgabelt und bis zum nächsten See mitnimmt. Der Campingplatz ähnelt einem amerikanischen Trailer Park, die beworbene ‘Butik’ finden wir. Hier ist die Kaffeemaschine. “Do you serve Cappuccino?” “Yes”, bekommen wir als Antwort. Es ist nicht so, dass wir sonst nirgends Kaffee bekommen hätten, meistens kann man hier sogar gratis nachholen, aber recht oft ist das hier in Norwegen sehr dünner Filterkaffee. Als Kaffeeliebhaber wird die Sehnsucht nach richtigem Kaffee irgendwann sehr groß. Der Cappuccino ist jedenfalls ein Traum und auch die 7 Kilometer auf Asphalt, die wir nun im Regen zurückwandern, haben sich ausgezahlt.
Am nächsten und letzten Tag wollen wir noch eine lange Tour gehen. Noch 3 Tage gemeinsam. In Norwegen. Gemeinsam durchs Leben – noch sehr lange.

Freitag, 19. August

Der letzte Tag. Der letzte Tag über die Berge. Der Plan war es, noch auf die Besshoe auf über 2.200 m zu gehen und anschließend noch einmal über den Besseggengrat in umgekehrter Richtung.
Doch am Morgen ist es grau in grau, es nieselt und ist neblig. Dennoch machen wir uns um 11 Uhr auf den Weg. Die ersten paar Hundert Höhenmeter sind schnell zurückgelegt. Es geht vorbei am See, den Wegweisern folgend. Nach einer Weile kommt es mir seltsam vor. Statt auf einer gleichbleibenden Höhenlinie am See entlang zu wandern, steigen wir immer höher hinauf. Ein Blick auf die Uhr, ein Blick auf die Karte. Wir sind falsch. Liebe Macht wohl im wahrsten Sinne des Wortes blind, denn wir sind auf einem völlig anderen Weg als geplant und normalerweise passiert uns so etwas weder mir noch Karin. Wieder absteigen macht bei dem Wetter jedenfalls gar keinen Sinn. So orientieren wir uns weiterhin an den Steinmännchen Richtung Besseggen, eben auf anderen Wegen. Es gibt Einsicht und es gibt Aussicht. Seit Montag ist es fast durchgehend trüb, regnerisch, kalt und grau. Ich hatte wirklich viel Einsicht, jetzt wünsche ich mir nichts als Wärme und Aussicht.


Oben angekommen, schreiten wir schnell voran, gleich wieder hinein in den Abstieg Richtung Gjendesheim um nicht auszukühlen. Das war alles nicht so geplant, aber bei dem Wetter gilt wie so oft: Wer weiß, wozu es gut war. Weiter oben hätten wir genauso wenig gesehen wie hier. Beim Kiosk im Tal trinken wir Kaffee und genießen unsere mitgebrachte Jause: Flatbrod mit Käse, Eiern, Keksen und Schokolade. Lakritz-Salmiak Bonbons sind hier sehr beliebt. Meine Kostprobe lässt mich den Nachmittagssnack fast wieder retour kommen. Das braucht wohl noch Anpassung und frühestens bei der nächsten Reise nach Norwegen probiere ich das wieder.
Anschließend geht es zurück zu unserer kleinen Hütte nach Bessheim, auf einem schönen Höhenweg mit noch einmal ein paar Hundert Höhenmetern.
Wir haben nun großes Glück oder mein Wunsch an das Universum wird erfüllt: Sonne. Licht. Wärme. Glück kann so simpel sein. Beim Abstieg pflücken wir süße Heidelbeeren und bei der Ankunft am Abend gilt nur noch: Weg mit den schweren Schuhen und ein kühles Bier genießen. Auch heute waren wir fast 8 Stunden draußen.
Es ist eine angenehme Müdigkeit, die wir jeden Tag verspüren. Das Gefühl, trotz widrigem Wetter richtig gelebt, erlebt und gefühlt zu haben. Ich bin kaputt, aber dankbar. Es ist eine Reise, ein Anfang, ein Ankommen, ein in mir sein. Der Alltag rückt angesichts der baldigen Abreise näher und beschäftigt mich zunehmend, aber ich ruhe viel mehr in mir als zu Beginn. Alles außen ist außen; es ist etwas, das erledigt wird. Alles innen – mein Kern – ist in mir und gehört nur mir. In mir ist Stärke, Kraft und Zuversicht. Das versuche ich in den Alltag mitzunehmen und im Nebel der Oberflächlichkeiten so beizubehalten. Ich fühle mich in dieser Landschaft hier vergleichsweise schwach, bin oft müde, aber mitnehmen kann ich dennoch nur Stärke.

Samstag, 20. August

Zum ersten Mal läutet heute der Wecker. Um 6 Uhr ist es an der Zeit, die Zelte hier abzubrechen, den Rucksack fertig zu packen und ein wenig später per etwa einstündigem Fußmarsch nach Gjendesheim zu gehen, wo uns der Bus um 11 Uhr nach Oslo zurück bringen soll.
Davor aber wird das Rentiergeweih möglichst gut und sicher befestigt. Wir gehen über einen kleinen Hügel mit etwa 150 Höhenmetern, versuchen nicht zu sehr auf die köstlichen Heidelbeeren zu blicken und erreichen – nach einer Woche Kälte und Regen – den See in Gjendesheim. Wir wollen beide nicht wirklich retour, schon gar nicht, wenn sich wie in diesem Moment der Abreise der Nebel lichtet.
Sei es wie es sei, es hat wohl viel der genannten Einsicht gebraucht.
Die letzte Nacht in Oslo verbringen wir etwas außerhalb in einem Appartment, gehen einkaufen, trinken Bier und kochen uns etwas Feines. Rucola! Tomatensauce! Baguette! Ein Traum. Bloß kein Brei mehr.
Erst weit nach Mitternacht gehen wir schlafen, ehe wir morgen ohnehin retour fliegen müssen.

Sonntag, 21. August

Tag der Abreise. Wecker um 6. Frühstück. Heute 2 Kaffee. Packen. U-Bahn. Airport Express. Flughafen. Geweihe in den Packsack hinein bekommen. Sondergepäck. Gestohlener Kaffee. Kanelbullar. Gin für Mama. Auf in die Norwegian Air.

Die Reise

Ohne Erwartungen bin ich hierher gereist, ohne etwas Besonderes über dieses Land, die Menschen und die Landschaft zu wissen. Nun, nach 11 Tagen kenne ich ein kleines bisschen der Landschaft und viel mehr über mich selbst.
The biggest change, die größte Entdeckung und Herausforderung ist das Tempo. Die Langsamkeit. Der Rucksack. Der Verlust der Zeit, der Planung.
Auch in Zukunft werde ich, werden wir, solche Reise machen. Auch meine Liebe zum Laufen und besonders dem Ultralaufen wird mich immer begleiten.
Norwegen ist ein Land der Weite; ein Land, das wie von selbst Freiheit vermittelt und Freiheit gibt.

Jeder, der Lust auf Abenteuer verspürt und die Natur liebt, sollte einmal hierher kommen. Hier kann sich das innere Feuer ausdehnen, hier darf es lodern.

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